16 November 2013

Stuntman’s Paradox

Anmerkungen zum Wahren, Schönen und Guten auf Zelluloid anlässlich der Reihe Bizarre Cinema #11
#10 Das Telefon sagt Du // When a Stranger Calls (Back)
#9 Travis Bickle mit Hund // Vietnam-Vets
#8 Das zweiköpfige Biest // Töten ohne Waffen
#7 Ein Arzt, wie er nicht sein soll // Mad Doctors
#6 Reel Animals // Grizzly
#5 Guter schlechter Film // Stanley
#4 50 Tote! // Assault on Precinct 13
#3 Penetra-, Muta-, Deformationen // Brian Yuzna
#2 Wo dein Geld ist // Blutiger Freitag
#1 Join Us // Evil Dead

Über Stuntmen
„The successful creation of the illusion by stuntmen ensues that audiences will have no knowledge of the stuntmen involved. They will believe that it was their favorite action star who performed the stunts. This is a stuntmen’s greatest reward. It is also the stuntman’s paradox: the more successfull they are, the less they are known. They are truly the faceless heroes of film, the athletic magicians of moviemaking.“ (Stunts Unlimited)
Das Stuntman’s Paradox, das der elitäre Berufsverband der A-List-Stuntmen in Hollywood sich stolz auf die Fahnen schreibt, verweist auf die zentrale Regel des klassischen Hollywoodkinos: Die Illusion muss perfekt sein, der Körper des Stuntman also unsichtbar. Vielleicht war das auch der Grund, warum beim Bizarre-Cinema-Special „Beruf: Stuntman“, das am 24.3.2012 im B-Movie stattfand, die klassische Hollywoodära fast komplett ausgeklammert wurde. Im Fokus standen stattdessen zwei Phasen, die die Ära der unsichtbaren Illusion einrahmen und in denen der Stuntman eine außerordentliche Form von Sichtbarkeit erhielt, in denen offen zur Schau gestellte Körperbeherrschung, Timing und Destruktionslust wichtiger waren als die Erzählung: die Stummfilm-/Slapstickzeit und das Attraktions-Kino der späten 70er/frühen 80er Jahre. Die Auswahl der Filmausschnitte und die dazu erzählten Anekdoten reichten von den perfekt getimten Zerstörungsorgien Buster Keatons (Steamboat Bill Jr., 1928) und Harold Lloyds (Safety Last, 1923) bis zur masochistischen Kampfkunst Jackie Chans (Police Story, 1985), der in vielen seiner Stunts an die Tradition des Keaton-Slapstick anschließt.


Die meisten Ausschnitte stammten aus US-amerikanischen Produktionen der 70er- und 80er-Jahre, in denen der Stuntmankörper spektakulär hinter dem Vorhang hervor- und ins Rampenlicht trat. Gezeigt wurden unter anderem Clips aus Gordon Douglas’ Viva Knievel! (1977, Stuntman: Evel Knievel), Burt Reynolds’ Stick (1985, Stuntman: Dar Robinson) und Steve De Jarnatts Cherry 2000 (1987). Ein halbstündiger Film von Thorsten Wagner war dem türkischen Hollywood-Blockbuster-Rip-off-Kino der 80er-Jahre und insbesondere seinem größten Sexsymbol Cüneyt Arkin gewidmet, dessen Starpersona wie die von Jackie Chan Schauspieler und Stuntman vereint (mehr zu Wagners Film, einem der besten des letzten Jahres, findet sich hier, man muss ein gutes Stück nach unten scrollen).

Zum Abschluss wurde Richard Rush’ The Stunt Man (1980, dt. Der lange Tod des Stuntman Cameron) gezeigt, in dem ein Vietnamveteran auf der Flucht vor der Polizei auf das Filmset eines Kriegsfilms gerät. Damit er sich dort verstecken kann, übernimmt er den Job eines verstorbenen Stuntman und gerät damit in die Fänge des größenwahnsinnigen Regisseurs, der die Kunst über das Leben stellt. Oder ist alles ganz anders? The Stunt Man ist zugleich eine Ode an den Beruf des Stuntman und eine gnadenlose Dekonstruktion des Illusionscharakters des Blockbuster-Kinos à la Hollywood. Er war sozusagen der postmoderne Gipfelpunkt einer US-Renaissance des Stuntman, der mit der Sichtbarmachung und Entmystifizierung des Stuntman-Körpers eine kritische Absicht verfolgte. Ihm vorausgegangen war die goldene Dekade dieses Berufsstandes, eine Feier des gefährdeten und versehrten Körpers: In Sydney Pollacks The Great Waldo Pepper (1975) spielt Robert Redford einen Stuntflieger der 20er-Jahre, Evel Knievel tourte mit seiner Motorrad-Show durch die Staaten, der Autofanatiker und Abschleppdienst-Unternehmer H.B. Halicki stellte mit Gone In 60 Seconds (1974) neue Blechschaden- und Verletzungs-Rekorde auf, und der Stuntman und Stunts-Unlimited-Mitgründer Hal Needham wurde mit Burt-Reynolds-Filmen wie Smokey and the Bandit (1977, dt. Ein ausgekochtes Schlitzohr) und Hooper (1978) zu einem der erfolgreichsten Regisseure der 70er.

Neujahr 1967: Evel Knievel springt über den Brunnen vorm Caesars Palace in Las Vegas

Für die Popularität von Stuntmen und Stuntmen-Figuren im 70er-Jahre-Kino lassen sich viele Gründe anführen: Mit der Krise des klassischen Hollywoodkinos waren auch seine formalen Axiome außer Mode geraten, auch aufgrund der andauernden TV-Konkurrenz begann eine Suche nach neuen Spektakel-Formen, die ins Kino locken. Ein anderes Erklärungsmodell könnte darin bestehen, das Stunt-Phänomen als Antwort auf eine Repräsentations- und eine damit einhergehende Männlichkeitskrise zu sehen: Die Attentate der 60er-Jahre, Vietnam, Watergate hatten das Selbstbild Amerikas als starke, aufrechte, gerechte Nation erschüttert, und man brauchte neue, echte, unkomplizierte Helden. Mir gefällt auch der Gedanke, dass in all den Karambolagen, Explosionen, Abstürzen der 70er-Jahre auch schon eine prophetische Ahnung der digitalen Zukunft mitschwingt, man wird Zeuge eines letzten Aufbäumen des Stuntkörpers, bevor er dank Motion Capture in die unendlichen Weiten des beliebig formbaren virtuellen Raums entschwindet (wie das dann aussieht, macht Denis Lavant in Leos Carax’ Holy Motors vor).

Die Namen von Hal Needham, Dar Robinson, Jackie Chan, Evel Knievel sind heute noch bekannt, aber wer erinnert sich außer Filmhistorikern noch an Yakima Canutt? Dabei ist der Mann wahrscheinlich der beste und wichtigste Stuntman, den es je in Hollywood gab, keiner hat mehr Stunts entwickelt, mehr Einfluss auf die Gestaltung von klassischen Actionszenen gehabt, mehr für die Professionalisierung des Berufsstandes getan. Er ist das unsichtbare Bindeglied zwischen der Slapstickzeit und den 70ern, seine Karriere begann 1919 und endete 1975 mit seiner Arbeit als Second Unit Director an Nevada Pass.


1895 wurde er als Enos Edward Canutt im Bundesstaat Washington geboren und wuchs auf einer Ranch auf. Mit 11 ritt er seinen ersten Bronco zu, mit 16 hatte er den ersten öffentlichen Rodeo-Auftritt, mit 17 wurde er zum „World’s Best Bronco Buster“ gekürt. In den 1900er- und 1910er-Jahren legte er eine steile Karriere als Bronco-Reiter, Bulldoger und All-Around Cowboy hin, von 1914 bis 1923 war er Profi-Rodeoreiter, seine erste Weltmeisterschaft gewann er 1917. Den Spitznamen, der ihn sein Leben lang begleiten sollte, erhielt er aufgrund eines Presse-Irrtums, was der Stadt Yakima ihren einzigen berühmten Sohn eintrug, auf den sie bis heute stolz ist: „Canutt is the most famous person NOT from Yakima Washington.“ Canutts Hollywood-Karriere begann wie damals üblich durch einen Zufall, 1919 begegnete er dem Western-Star Tom Mix und spielte in zwei seiner Filme mit. Die Freundschaft mit Douglas Fairbanks, der in denselben Sportclub wie Canutt ging, brachte weitere kleine Rollen und Stunts mit sich, es folgten erste Hauptrollen. Bis 1928 wirkte Yakima Canutt in 48 Stummfilmen mit, danach war wegen des Aufkommens des Tonfilms Schluss mit seiner Schauspielkarriere: „Meine Stimme klang wie ein Hillbilly in einem Brunnenschacht.“ (Die biografischen Angaben und das Zitat stammen aus dem Wikipedia-Eintrag zu Canutt und dem Artikel „Cowboy Stuntman Yakima Canutt“ von Deborah J. Lightfoot)
„In the five years between 1925 and 1930, fifty-five people were killed making movies, and more than ten thousand injured. By the late 1930s, the maverick stuntman willing to do anything for a buck was disappearing. Now under scrutiny, experienced stunt men began to separate themselves from amateurs by building special equipment, rehearsing stunts, and developing new techniques.“ (Falling: How Our Greatest Fear Became Our Greatest Thrill, Garrett Soden)
Da für ihn als Schauspieler außer kleinen, stummen Rollen nichts mehr zu holen war, sattelte Cannutt um: Seine Gabe, auch sehr schwierige und gefährliche Stunts in einer Einstellung zu bewältigen, sorgte für zunehmende Aufträge vor allem kleiner Studios wie Mascot und Republic. Für 50 Dollar choreografierte und inszenierte er Stuntsequenzen und spielte sie auch gleich selbst. Dabei griff er auf eine Vielzahl Rodeotechniken zurück, die er für den Film erweiterte und so den Grundstein für das Handwerk des Stuntman in Hollywood legte. Zu seinen Innovationen gehören der Crupper Mount (Bocksprung von hinten in den Sattel), der „L“-Steigbügel (in dem man beim Fallen nicht hängen blieb) und das berühmt-berüchtigte „Running W“, ein an den Vorderbeinen des Pferdes befestigter Draht, der es an einer bestimmten Stelle zu Fall bringt und den Reiter aus dem Sattel fliegen lässt. Viele Pferde starben dabei, 1940 wurde die Vorrichtung deshalb verboten (Canutt: „I did some three hundred Running W’s and never crippled a horse“). Canutts berühmtesten Stunt entwickelte er 1937 für den Western Riders of the Dawn: Er fällt von einer Kutsche, die fährt über ihn weg, er hält sich hinten fest, klettert hoch und wieder nach vorn (die Szene wurde in Jäger des Verlorenen Schatzes zitiert).

Doing the Crupper Mount: Yakima Canutt 

1932 traf Canutt einen Mann, auf dessen spätere Karriere und Star-Persona er einen kaum zu überschätzenden Einfluss hatte: Bei den Dreharbeiten von The Shadow of the Eagle doubelte er bei einem Motorradstunt Marion Michael Morrison, der zwei Jahre zuvor auf Anregung von Raoul Walsh für The Big Trail den Künstlernamen John Wayne angenommen hatte. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Freundschaft und sie arbeiteten bei den vielen weiteren Filmen gemeinsam an der Entwicklung von Stunts. Vor allem bauten sie das auf Boxtechniken zurückgehende Pass System aus, das Prügeleien realistischer wirken ließ, obwohl sich die Kontrahenten nicht berührten. Wayne lernte von Canutt nicht nur, wie man von einem Pferd fällt, ohne sich zu verletzen, sondern er bildete seine gesamte Leinwand-Persönlichkeit nach dessen Vorbild, ahmte Sprache und Gang des Stuntman nach: „Ich habe Wochen damit verbracht zu studieren, wie Yakima sich bewegt und wie er spricht. Er war ein echter Cowboy.“ In Ronald L. Davis’ Duke: The Life and Image of John Wayne beschreibt Wayne den von Canutt erlernten Gang noch etwas genauer: „I just imagine that I have a pea between the cheeks of my ass and I don’t want to drop it.“

John Wayne und Yakima Canutt in The Star Packer (1934)

1940 musste Canutt für eine Weile als Stuntman pausieren: Bei den Dreharbeiten zu Jack Conways Boom Town erlitt er schwere innere Verletzungen, als er für Clark Gable vom Pferd fiel. Vom Produzent Sol Siegel erhielt er das Angebot, Actionsequenzen zu inszenieren, und nach einem weiteren Unfall 1943, bei dem er sich beide Fußknöchel brach, verlegte er sich endgültig auf seine Drittkarriere als Actionsequenz-Regisseur. In nur wenigen Jahren wurde er zu einem der gefragtesten Second-Unit-Regisseure von Hollywood, der vor allem für gigantische Produktionen mit aufwendigen Massenszenen gesucht wurde. Für Ivanhoe (1952) brachte Canutt den britischen Stuntmen das einhändige Reiten bei, er inszenierte das spektakuläre Wagenrennen in Ben Hur (1959) und arbeitete mit an Historienschinken wie Die Ritter der Tafelrunde (1953), Spartacus (1960), El Cid (1961) und Der Untergang des Römischen Reiches (1964).

1967 erhielt Canutt den Oscar für sein Lebenswerk, insbesondere für seine Verdienste um Sicherheitsstandards in der Stunt-Arbeit. Er hat einen Stern auf dem Walk of Fame. 1985 starb er im Alter von 90 Jahren eines, so sagt man, friedlichen und natürlichen Todes. Jeder, der Filme liebt, hat seine Arbeit und seinen Körper unzählige Male gesehen, aber nur einmal in seiner 56 Jahre umspannenden Karriere ist sein Stunt-Körper aus der Unsichtbarkeit hervorgetreten, kurz, aber unvergesslich. In John Fords Stagecoach (1939) springt er im Indianerkostüm von einer dahinrasenden Kutsche auf ein Pferdegespann, hangelt sich zwischen den Gäulen nach vorn, wird von John Wayne in den Rücken geschossen, fällt zu Boden, Pferde und Kutsche rasen über ihn hinweg – und in einer seltenen Geste des illusionszerstörenden Verharrens bleibt die Kamera bei ihm und beobachtet, wie er wieder aufsteht:


Das in Hollywood verpönte Verharren der Kamera, nachdem die Action eigentlich schon vorbei ist, das Wiederaufrichten des Stunt-Körpers, lädiert, gebeugt, aber ungebrochen, hat niemand so sehr zelebriert wie Jackie Chan. Der beste, der härteste und erfindungsreichste Stuntman aller Zeiten hat seine Star-Persona nicht auf die Illusion eines unverletzbaren Heldenkörpers aufgebaut, sondern auf ein offen zur Schau gestelltes, selbstironisch gebrochenes, aus vielen Kameraperspektiven festgehaltenes Spektakel des Schmerzes. Jackie Chan springt von Häuserdächern und durch Fensterscheiben, fährt auf Rollschuhen unter Lastwagen hindurch, hängt an Hubschraubern, kämpft ohne Bandagen, und er gewinnt am Ende immer, doch man sieht auf der Leinwand (spätestens bei den Take-outs während der End-Credits) auch den Preis, den er dafür zu zahlen hat: Versehrtheit, Schmerzen, ewige Wiederholung. (Ein schöner Vergleich zwischen den Action-Choreografien Hollywoods und Jackie Chans findet sich bei David Bordwell).

Jackie Chan kam am 7. April 1954 zur Welt und erhielt den Namen Chan Kong-sang – „der in Hongkong geborene Chan“. Er war zwölf Monate im Bauch der Mutter und hatte bei der Geburt zwölf Pfund Lebendgewicht, was ihm den Spitznamen „Pao-Pao“ (Kanonenkugel) einbrachte. Sein kolossales Gewicht bewahrte ihn davor, für 2000 Dollar an die entbindende Ärztin verkauft zu werden, denn er musste ja was Besonderes sein. Seine Kindheit verbrachte Chan in der Villa des französischen Konsuls in Hongkong, wo seine Mutter als Wäscherin sein Vater als Koch arbeiteten, vielleicht der Grund für die lebenslange Fixierung aufs Essen (und das Gefühl, nicht genug davon zu bekommen), die sich wie ein roter Faden durch die unbedingt lesenswerte Autobiografie I Am Jackie Chan (dt. Jackie Chan – Ein Leben voller Action bei Heyne) zieht.


Dort ist auch zu lesen, dass Chan schon ab frühester Kindheit durch seinen Vater, der es seinen Ahnen aus Shandong schuldig zu sein glaubte, den Sohn zu einem nordchinesischen Krieger zu erziehen, einem strengen disziplinarischen Regime unterworfen wurde: aufstehen mit der Sonne, kalt waschen, Training an selbst gebauten Geräten. 1960 kam diese Kindheit zu einem Ende, als Chan von seinen Eltern in die Chinese Drama Academy in Hongkong gebracht wurde, wo er die folgenden zehn Jahre von Meister Yu Jim-Yuen in den Künsten der Peking-Oper unterrichtet wurde. In Chans erstaunlich nüchterner und humorvoller Darstellung dieser Jahre erscheint die Academy als eine Mischung aus Dickenschem Waisenhaus, osteuropäischem Leistungszentrum und Konzentrationslager, ein Ort der Entbehrung, Disziplinierung, Unterwerfung – aber auch einer der Solidarität, der körperlichen Bildung und Abhärtung.

1970 war nicht nur Jackie Chans Ausbildung abgeschlossen, sondern auch die Zeit der Peking-Oper abgelaufen. Diese uralte Form des Bühnen-Entertainments fand immer weniger Zuschauer, viele Theater machten dicht, stattdessen strömten die Einwohner Hongkongs unvermindert in die Kinos, Studios wie Cathay, Shaw Brothers und Golden Harvest dominierten den gesamten asiatischen Filmmarkt mit ihren Produktionen. Statt auf der Bühne verdienten Jackie Chan und seine Academy-Brüder Sammo Hung und Yuen Biao ihr Geld als Stuntmen, meist als Tagelöhner, manchmal als längerfristig Angestellte. Einen seiner allerersten Stunt-Credits verdiente sich Chan für den Bruce-Lee-Film Fist of Fury (1972, dt. Todesgrüße aus Shanghai), in dem er auch gleich gegen den Meister antreten durfte: „I was just a stuntman on the film, but I doubled for the head villain himself, Mr. Suzuki. During the final fight scene, Bruce kicks me through a wall, my body flying fifteen feet before hitting the ground – at the time, that was the longest distance a Hong Kong stuntman had ever been thrown without some kind of safety device.“

Bruce Lee vs. Jackie Chan: Enter the Dragon (1973)

Nach Bruce Lees Tod 1973 machte sich die gesamte Filmindustrie von Hongkong auf die Suche nach einem Ersatz. Jackies Karriere stand viele Jahre im Schatten dieser Suche, bis er Ende der 70er-Jahre langsam seinen eigenen Stil ausprägte. Der von ihm entwickelte Kampfstil und seine Leinwand-Persönlichkeit sind in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Lees Image. Chan: „Er kickt hoch und ich niedrig, er ist der unbesiegbare Held, ich bin ein Underdog, seine Filme sind düster-intensiv, meine ganz leicht.“ Chan bezeichnet sich selbst als Akrobat und Lee als einen Kämpfer, der die Kampfkunst erlernte, um reale Fights zu gewinnen. Der Unterschied zwischen den beiden ließe sich auch als einer zwischen Narziss und Masochist beschreiben: Lee gewinnt, weil er sich die Niederlage einfach nicht vorstellen kann, Jackie gewinnt, weil er sich weigert zu verlieren und einfach nicht aufgibt. Bei ihm ist der Schmerz immer sichtbar, die Kämpfe sind sehr lang, es gibt keine entscheidenden Treffer, nur Durchhaltevermögen. Es gibt bei ihm sehr viele Einstellungen mit schmerzverzerrtem Gesicht, oft reibt er sich die Faust, wenn sie was Hartes getroffen hat. In seiner Autobiografie schreibt Chan: „I live for pain. Even when I was young I loved pain.“

Aber Jackie Chan ist nicht nur ein Schmerzensmann, sondern auch einer größten Komödianten, die die Filmgeschichte hervorgebracht hat. Seine besten Stunts sind nicht nur erstaunliche Akte körperlicher Selbstgefährdung, sondern direkt zurück zu seinem Vorbild Buster Keaton führende Wunder an Inszenierungskunst. Jeder Schauplatz wird bei ihm zu einem Hindernisparcours, jeder Gegenstand wird Element einer aus dem Lot geratenen Welt, die Jackie Chan mit endloser Eleganz, Schnelligkeit und körperlicher Härte vor dem endgültigen Chaos bewahrt. Jackie Chan führt zurück zu den Ursprüngen des Kinos, alles ist Zerstörung, Bewegung, Gelächter, bei ihm beginnt die Welt zu tanzen wie bei Buster Keaton, Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Gene Kelly (vor allem in Vincente Minnellis irrwitzigem The Pirate):

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